Reden statt Zensuren geben


Die Halbjahreszeugnisse werden verteilt – Gespräche als Zeugnis-Ersatz an der Integrierten Gesamtschule

STADE. Jonte Jürgensen ist etwas blass um die Nase, als seine beiden Klassenlehrer die Tür öffnen. „Oh je, jetzt wird es ernst“, sagt der Elfjährige. In einem 30-minütigen Gespräch sollen sein Arbeits- und Sozialverhalten und seine schulischen Leistungen besprochen werden. Lernentwicklungsgespräche heißt der Zeugnis-Ersatz an der Integrierten Gesamtschule Stade (IGS). Das TAGEBLATT war bei den Gesprächen dabei.

Hier ein Zupfen am Ärmel, da ein nervöses Lächeln – ganz wohl fühlt sich Jonte Jürgensen nicht in seiner Haut. „Ich bin schon gespannt irgendwie“, sagt der Elfjährige unsicher. Dabei sind die beiden Lehrer voll des Lobes: „Dein Arbeitsverhalten ist super“, sagt Klassenlehrer Arne Reiß.

Am Ende jedes Halbjahres finden diese Sprechtage in der IGS statt. Sie sind der Ersatz für ein Zeugnis. Zwar bekommen die Schüler einen Bogen mit nach Hause, auf dem ihre Leistungen festgehalten werden, er enthält aber keine Noten. Mit Plus, Minus und Tendenzpfeilen wird die Lernentwicklung der einzelnen Schüler bewertet.

Die an der Gesamtschule üblichen zwei Klassenlehrer konzentrieren sich im Halbjahr aber mehr auf das Arbeits- und Sozialverhalten, als auf die Leistungen in den einzelnen Fächern. „Diese Gespräche geben immer neuen Drive für das zweite Halbjahr“, sagt Jörg Moser-Kollenda, Schulleiter der IGS und selbst Klassenlehrer.

Jedes Gespräch beginnt mit einem Brief, den die Schüler einige Wochen zuvor an ihre Klassenlehrer schreiben. In dem schätzen sie sich selbst ein, beurteilen Stärken und Schwächen und gehen auf das Klassenumfeld ein. Alexa Domröse ist in der achten Klasse und hat einen zweiseitigen Brief abgeben. „Bist du dir damit sicher?“, fragt Klassenlehrerin Ute Bruns und zeigt auf einen Satz im Brief.

Gemeinsam gehen Ute Bruns und Lars Schlegel Punkt für Punkt den Brief durch. Dabei vergleichen sie Alexas Einschätzungen mit den eigenen. Am Ende jedes Gesprächs werden Ziele entwickelt, die die Schüler im Laufe des Halbjahres erreichen wollen.

Alexa Domröse ist eine gute Schülerin und hat gelegentlich Leerlauf im Unterricht. Sie soll diese Zeit sinnvoll mit Zusatzaufgaben nutzen. „In Englisch kannst du zum Beispiel mit der Lektüre mehr arbeiten“, sagt Ute Bruns. Außerdem soll sie präziser werden. Da sie manchmal die Aufgabenstellung nicht genau lese, mache sie unnötige Fehler. „Du könntest deinen Eltern zum Üben zu Hause in kurzen Sätzen das Thema des Unterrichts erklären“, sagt Lars Schlegel, der zweite Klassenlehrer von Alexa. Sie ist einverstanden mit den Zielen und zufrieden mit dem Gespräch.

Bei sehr guten Schülern sei es manchmal schwer, noch weitergehende konkrete Ziele zu formulieren, sagt Jörg Moser-Kollenda. Bei anderen müssten die Lehrer woanders ansetzen. Zum Beispiel beim Kopfrechnen des kleinen Einmaleins soll ein Schüler die Bedenkzeit im Mathematik-Lernprogramm auf drei Sekunden reduzieren. Ein anderer Schüler soll durchschnittlich täglich fünf Minuten Vokabeln lernen. „Bei solchen Zielen geht die Kurve dann merklich im Laufe des Halbjahres nach oben“, sagt Arne Reiß.

Inzwischen hat es auch Jonte geschafft, sich wortkarg durch das Gespräch zu manövrieren. Er ist erleichtert. Das fällt auch seinem Klassenlehrer Jörg Moser-Kollenda auf: „Jetzt hast du ja auch wieder Farbe im Gesicht.“

Stader Tageblatt, 29.01.14