Vom Leben als Angehörige eines Widerständlers


 

STADE. Erinnerung an Adolf Reichwein: Der Beirat „Der Nationalsozialismus in Stade und seine Folgen“organisiert Veranstaltung für Schüler.

Sie blieben zusammen. Die Schülerinnen und Schüler der Integrierten Gesamtschule, des Athenaeums und des Vincent-Lübeck Gymnasiums besetzten am vergangenen Montag erst die rechte und als diese voll war auch die linke Seite des Königsmarcksaals im Stader Rathaus. Nur in den beiden vorderen Stuhlreihen wollte niemand von ihnen sitzen.

Auf eine Leinwand wurden Schwarz-Weiß-Aufnahmen projiziert. Sie zeigten Adolf Reichwein, Mitglied des Kreisauer Kreises, der am 20. Oktober 1944 vor dem Volksgerichtshof in Berlin für den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zum Tode verurteilt wurde. Wortlos nahm er sein Urteil entgegen. Noch am selben Tag wurde er erhängt. Er hinterließ eine Frau und vier Kinder.

Nach dem Film („Der Mut des Fliegers“, 1998) sprach die jüngste Tochter Adolf Reichweins. Sabine Reichwein (74) erzählte den Schülern, wie sie sich als Angehörige eines Widerständlers „durchs Leben schlängeln“ musste. Das Verhältnis zum Vater, der starb als sie drei Jahre alt war und an den sie keine eigenen Erinnerungen habe, sei lange Zeit ambivalent gewesen. Als Vaterfigur habe sie ihn vermisst, über Ersatzväter versucht, diesen Verlust zu kompensieren. Gleichzeitig sei er als Mitglied des Kreisauer Kreises ein „Ideal an Mann“ gewesen, an den kein anderer heranreichen konnte. Als Tochter eines Menschen, der erst in der DDR und später, nachdem er zu Unrecht „als Kommunist verteufelt“ worden war, auch in der BRD als Held bezeichnet wurde, sei sie oft für dessen Mut „mitgeehrt“ worden, habe aber ebenso Ablehnung erfahren. „Ich habe mich erst spät, etwa mit 60 Jahren, mit meiner Rolle arrangiert. Bestätigung von anderen und die Distanz vom ‚Übervater‘ gaben mir das Selbstbewusstsein, meinen eigenen Standpunkt zu finden“, so Reichwein.

„Ich freue mich sehr über die hervorragende Zusammenarbeit mit der IGS und den beiden Gymnasien“, sagte Dr. Christina Deggim, die als Leiterin des Stadtarchivs Stade und Vorsitzende des Beirats „Der Nationalsozialismus in Stade und seine Folgen“ die Veranstaltung organisiert hatte. Nach persönlichen Treffen zwischen Sabine Reichwein und Dr. Beate-Christine Fiedler, Dr. Volker Drecktrah sowie Dr. Andreas Schäfer und Rücksprache mit Silvia Nieber entstand die Idee, Stader Schülern einen Austausch zu ermöglichen.

Zunächst fand keiner der Jugendlichen den Mut, aufzustehen und eine Frage an Sabine Reichwein zu stellen. Dr. Johannes Heinßen, Geschichtslehrer am Vincent-Lübeck Gymnasium fragte, in welchem Maße die Erinnerung an Adolf Reichwein in den vergangenen Jahrzehnten einen Wandel durchlief. „Es wurde zunehmend emotionaler“, erklärte Sabine Reichwein. Ihre Mutter sei wesentlich beherrschter mit dem Thema umgegangen: „Ich habe sie nie klagen hören, nie weinen sehen.“ Rosemarie Reichwein habe das Verständnis ihres Mannes geteilt, dass das eigene Wohl und das der Familie hinter der Vision zurückstanden, ein neues Deutschland nach dem Sturz des Naziregimes aufzubauen. Ihre Gefühle habe sie dabei oft unterdrückt. Der dreijährigen Sabine erzählte sie, der Vater sei im Krankenhaus gestorben. „Sie sprach sehr wenig, wir Kinder haben aber auch nicht viel gefragt.“

Über Jahrzehnte erfuhr Sabine Reichwein immer mehr über den Vater. Erst heute würde sie ihn einen Helden nennen. „Meine Mutter sagte immer: Er war einer, der von zwei Seiten brennt.“ Er suchte den Blick über seinen Horizont, hatte ein Herz für Minderheiten. Früher sprach ihre Mutter bei Veranstaltungen wie dieser über Adolf Reichwein, heute folgt Sabine Reichwein ihren Spuren. „Haben Sie den Mut, Ihren eigenen Standpunkt zu vertreten und lassen Sie sich nicht vereinnahmen“, riet sie den Schülern.


Stader Tageblatt, 14.10.15